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  1. #2711
    Diamanten Mitglied Avatar von WackenDoc
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    Ich glaube, es ist in den meisten Fällen nicht einmal die Angst verklagt zu werden. Mehr die völlige Überforderung mit der Situation und das Verlassen auf irgendwelche Institutionen. "Kann ich nicht, damit kenn ich micht nicht aus" ist zusätzlich gesellschaftlich weit verbreitet.
    This above all: to thine own self be true,
    And it must follow, as the night the day,
    Thou canst not then be false to any man.
    Hamlet, Act I, Scene 3



  2. #2712
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    Ich glaube auch, dass die Angst, verklagt zu werden oder sich "falsche Handlungen" rechtfertigen zu müssen, nur eine sehr weit untergeordnete Rolle spielen. So weit kommen die allermeisten, die mit so einer Situation konfrontiert werden, noch nicht mal.

    Ich sehe das genau wie Wackendoc: Die zwei wichtigsten Gründe dürften Nicht-Erkennen der Situation oder die Lähmung durch insgesamte Überforderung sein, die wiederum sowohl das Erkennen der Situation als auch den eigenen Zugang zu entsprechenden Handlungsschritten erschwert. Jeder kennt doch das lähmende Gefühl in einer Situation, in der man erst mal nicht weiß, was zu tun ist. Würde mich wundern, wenn nicht jeder irgendwie schon mal von sich selbst erlebt hat, wie er in einer unklaren Situation erst mal nix gemacht hat, vielleicht sogar TROTZ des unterschwelligen Wissens, dass man jetzt eigentlich was tun müßte. Da spielt ja auch Verdrängung eine Rolle. Wie lähmend es ist, wenn einer umkippt, erkennt man doch schon daran, dass viele Leute, die die Lebensgefährlichkeit der Situation tatsächlich wahrgenommen haben, einem hinterher erzählen, dass ihnen in dem Moment nicht mal mehr die Notrufnummer eingefallen ist oder sie erst lange überlegen mußten oder sie jemand anderen (Sohn o.ä.) angerufen haben, damit *der* den Rettungsdienst ruft.

    Zudem, glaube ich, ist es subjektiv für die Leute gar nicht so, dass sie "nichts" getan haben. Das wirkt nur auf uns so, wenn wir an den Einsatzort kommen und alle da rumstehen und keiner drückt. In ihrer Realität haben sie aber ja was getan: Sie haben den Notruf gewählt und Hilfe geholt. Und sind jetzt damit beschäftigt, auf die Hilfe zu warten. Sie machen sich Sorgen, ärgern sich darüber, dass noch keiner da ist, schauen vielleicht auf die Uhr, wieder auf die Uhr und wieder, rufen irgendwelche Verwandten an und erzählen denen, dass es Opa schlecht geht und sie den Notarzt gerufen haben, legen Opa ein Kissen unter den Kopf, machen den Fernseher aus usw. usf. Das ist nicht "nichts tun". Die machen sich Sorgen und sind damit beschäftigt. Sie machen nur nicht das, was jetzt das Richtige wäre.

    Man sieht ja, dass, wenn die Leitstelle den Leuten sagt, was sie tun sollen, fast nie jemand die Sachen gar nicht macht, die die Leitstelle ihm anweist. Die Leute machen vielleicht nicht alles, und das, was sie machen, machen sie nicht wie ein Profi, aber im allgemeinen versuchen sie zumindest, das zu machen, was ihnen gesagt wird bzw. was sie hinkriegen. Ein gewisses zusätzliches Problem ist sicherlich, dass die CPR-Situation auch von der Leitstelle in vielen Fällen nicht korrekt erkannt wird, aus verschiedenen Gründen. Der Klassiker dabei ist ja, dass auf die Frage "atmet er noch" geantwortet wird "ja", und damit die Frage des Kreislaufstillstands geklärt scheint. In Wirklichkeit ist die "Atmung" aber eben nur der Rest an Schnappatmung, der in den ersten Minuten nach dem Kreislaufstillstand eben noch vorhanden ist. Man erlebt es ja oft genug, dass eine Alarmierung zur "Atemnot" sich als Reanimation entpuppt, weil die angestrengt wirkende Atmung für die Angehörigen das augenfälligste Symptom ist, erst recht, wenn derjenige (wegen laufendem Herzinfarkt) schon in den Minuten vorher gesagt hat, dass er irgendwie nicht richtig Luft bekommt.

    Ein weiteres Problem, über das meiner Erfahrung nach praktisch kaum gesprochen wird, ist erade die Tatsache, dass ein Kreislaufstillstand nicht bedeutet, dass jemand umkippt und dann klar leblos rumliegt und gar nix mehr macht. Sondern es kippt jemand um und fängt an zu krampfen, oder selbst wenn er nicht krampft, dann atmet er noch eine Weile weiter. Und macht dann immer weniger. Das ist für Laien einfach oft nicht als Kreislaufstillstand zu erkennen, sondern demjenigen geht es halt "langsam immer schlechter". Bevor man es nicht erlebt hat, identifiziert man doch so etwas kaum richtig. Erst atmet derjenige komisch, zuckt vielleicht, man wählt den Notruf. Wenn man mit dem Notruf fertig ist, macht derjenige gar nix mehr und man hofft einfach, dass er wieder was macht. Gefühlt hat man dann in dem Moment alles gemacht, was man tun konnte.

    Außerdem ist es beim plötzlichen Kreislaufstillstand so: Alles, was außerhalb des Patienten ist, scheint noch normal. Wenn man sich an der Normalität festhält, die um einen herum ist, scheint die Situation weniger bedrohlich. Mit CPR anzufangen bzw. insgesamt zu realisieren, dass derjenige einen Kreislaufstillstand hat, durchbricht diese scheinbare Normalität und wirkt somit emotional erst mal bedrohlicher als nichts zu tun und sich weiterhin mit "normalen" Dingen zu beschäftigen. Das realisiert niemand so, das ist alles eher unbewußt, aber ich glaube, dass es zumindest unterbewußt eine Rolle spielt.

    Ich kann es eigentlich gut verstehen, dass die Leute mit so einer Situation meistens überfordert sind. Ich bin eher immer wieder überrascht, wenn Leute sehr schnell eine Situation korrekt beurteilt haben und dann vielleicht sogar eine mustergültige Herzdruckmassage abgeliefert haben. So eine Herzdruckmassage ist ja auch eine ziemlich gewalttätige Sache, wenn man das noch nie gemacht hat. Dazu gehört wirklich einiges an Entschlossenheit.

    Ich bin mal zu einem Handwerker in den 40ern gerufen worden, der bei Arbeiten in einer Lagerhalle plötzlich ohne vorherige Beschwerden und ohne irgendwelche Worte umgekippt ist. Im Beisein seiner beiden Kollegen. Wenn ich mich recht erinnere, hat der wohl auch zunächst noch gekrampft, da bin ich mir aber nicht mehr sicher. Jedenfalls ist einer der beiden Handwerks-Kollegen, der betrieblicher Ersthelfer war, zur ca. 10 m entfernten Lagerverwalter-Kabine gelaufen und hat dafür gesorgt, dass vom Lagerverwalter der Notruf gewählt wurde. Der Lagerverwalter war ebenfalls Ersthelfer. An der Außenseite der Lagerverwalter-Kabine war prominent ein Defibrillator angebracht. Der Defi bzw. die Aufhängung war genau das gleiche teure und auffällige Teil, das in mehreren deutschen Kurbädern in den Kurparks etc. um die kardiologischen Rehakliniken herum angebracht ist und selbst jedem zufälligen Spaziergänger stark auffallen und klarmachen soll, was drin ist.

    Wir kamen an, der Patient lag reglos, Reanimation war erfolglos. Patient hinterließ Frau und mehrere kleine Kinder. Keiner hatte was gemacht. Wir sprachen mit den beiden überlebenden Kollegen des Handwerks-Betriebs, der von extern kam und in der Halle Auftragsarbeiten verrichtete, und mit dem Lagermeister der Halle selbst. Der Lagermeister kam, nachdem wir die Reanimation aufgegeben hatten, sogar auf uns zu und war ganz bestürzt über diesen Ausgang. Er erklärte von sich aus, dass er Ersthelfer sei und das ja eigentlich ein Glück (für den Verstorbenen) gewesen sei, da er sofort wußte, was zu tun ist, und sofort ganz schnell gehandelt und den Notruf gemacht habe. Der eine von den Handwerkskollegen outete sich ebenfalls als betrieblicher Ersthelfer und fragte, ob es noch irgendwas gegeben hätte, was er hätte besser machen können. Ich weiß, dass sogar noch Thema der Unterhaltung war, dass man ja regelmäßig zu den Kursen alle 2 Jahre gehe, und ich glaube, der eine sagte, dass sein letzter Kurs noch gar nicht lang her sei.

    Wenn man es objektiv und nüchtern sieht: Ja, man hätte sehr viel besser machen können. Konkret: Den Defibrillator benutzen. Das habe ich denen auch gesagt. Mindestens dem Handwerks-Kollegen des Verstorbenen wich sichtbar die Farbe aus dem Gesicht, als er realisierte, dass das genau die Situation war, die in den Erste-Hilfe-Kursen immer geübt worden war, und die er nicht erkannt hat. Dass er noch nicht mal daran gedacht hat, dass man einen Defibrillator brauchen könnte. Dass ein Defi da an der Wand hing, wo er den Lagermeister um Hilfe gebeten hatte, hatte er in der Situation natürlich auch nicht realisiert.

    Für uns wäre einiges verbesserungswürdig gewesen: Uns war zwar (durch den konkreten Notruf des Lagermeisters) sogar konkret gesagt worden, dass wir zu "Eingang 6" sollen. Aber als wir aufs (recht große) Betriebsgelände fuhren, war nirgends erkennbar, wo der Eingang 6 oder wo überhaupt ein Eingang sein könnte oder ob wir überhaupt am richtigen Gebäude sind. Von der Einfahrt aufs Gelände aus war auch nirgends überhaupt eine Person zu erkennen, die wir fragen könnten. Wir fuhren um das erste hinter der Einfahrt liegende Gebäude herum und suchten es ab, bis wir irgendwann Eingänge mit Nummern fanden, und dann winkte auch jemand. Als wir ins Gebäude kamen, war da aber wiederum keiner, der uns sagte, wo wir hin müssen, da der Lagerverwalter (der am Eingang 6 postiert war), nachdem er uns herangewinkt hatte, irgendwohin verschwunden war. Ich glaube, zum Patienten, aber der war hinter einer Wand und Treppe, den konnten wir nicht sehen, als wir ins Gebäude rein kamen. Der Patient wiederum lag, als wir ihn erreichten, in der stabilen Seitenlage unter einigen Rohren,so dass wir nicht gescheit an ihn dran kamen, und ihn erst mal rausziehen mußten. Natürlich war er auch noch vollständig in entsprechender Arbeitsschutz-Kleidung angezogen, die erst mal entfernt werden mußte.

    Vieles, was man besser hätte machen können, und ich kann bei dem Fall ganz klar sagen, dass diejenigen, die dabei waren, das auch garantiert gemacht hätten, *wenn* sie die Situation korrekt bewertet hätten und *wenn* sie das im Erste-Hilfe-Kurs theoretisch Besprochene und praktisch Geübte auf die Situation hätten anwenden können. Der direkte Kollege des Toten erklärte mir, über sich selbst völlig schockiert, dass er sich in seiner Firma freiwillig als Ersthelfer gemeldet habe, weil er sich dachte, dass es auch gut für ihn ist, wenn er alle 2 Jahre einen Erste-Hilfe-Kurs bezahlt bekommt und seine Erste-Hilfe-Kenntnisse somit auf Firmenkosten immer aktuell halten kann, denn "man weiß ja nie, wann man in die Situation kommt". Den hat es richtig erschüttert, dass er in dem Moment überhaupt nicht auf die Idee gekommen ist, CPR zu machen oder einen Defi zu holen, denn "genau dafür habe ich doch diese Kurse gemacht". Und als ich mit dem Arm auf den Defi an der Wand gezeigt habe, 10m von seinem toten Kollegen entfernt, hat er die Augen aufgerissen und wäre fast zusammengeklappt.

    Ich finde, man erlebt inzwischen schon, dass sowohl die inzwischen eingeführte Leitstellen-Reanimation als auch die größere Schwerpunkt-Setzung auf CPR in den Erste-Hilfe-Kursen im Vergleich mit vor 20 Jahren dazu geführt haben, dass doch immer mehr Leute mit CPR beginnen. Mit dem Nebeneffekt, dass man inzwischen auch gelegentlich erlebt, dass auf jemandem von Laien rumgedrückt worden ist, bei dem das nicht indiziert war.

    Alles Gute an Choranaptyxis: Es wird bei dir nicht so weitergehen, wie es angefangen hat!
    Geändert von Pflaume (29.11.2019 um 21:33 Uhr)



  3. #2713
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    Danke für die ausführliche Erklärung.
    In deinem Fall Pflaume trifft es vielleicht weniger zu, aber generell ist ja der EH-Kurs bei manchen etwas länger her. Und zumindest in den Kursen, in denen ich war (und in 1,5 Wochen kann ich dann beim nächsten schauen), war es so, dass viele an den Puppen schon unsicher waren.
    Da hab ich dann vergessen, die Kurze zu ziehen. Klar, warum sollte es in der Realität anders sein.
    Danke an Alle!
    "Dum spiro, spero"
    Cicero



  4. #2714
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    Hab es bei meiner eigenen ersten Rea im Krankenhaus selbst erlebt, dass die Situation völlig neu ist und man vor Stress völlig vergisst wo der nächste AED hängt... man sollte das Stresslevel nicht vergessen.



  5. #2715
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    Schöner post. Trifft es gut und zeigt wieder einmal, dass man, wie bei vielem anderen auch, die Dinge von beiden Seiten aus betrachten muss.
    Geändert von maxz (02.12.2019 um 17:56 Uhr)



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