Donauwörth/Nördlingen. Das Verfahren vor dem Nördlinger Schöffengericht unter Vorsitz von Helmut Beyschlag warf eine Grundsatzfrage auf, die auch jetzt noch kein Beteiligter restlos klar beantworten kann: Wie weit muss sich ein Notarzt über den akuten Notfall hinaus ein Bild der Hintergründe machen?
Der Fall: An einem Tag im Frühjahr des vorigen Jahres wird um 22.35 Uhr in Donauwörth ein Notarzt zu einer 52-jährigen Frau gerufen, die alkoholisiert in ihrem Auto sitzt. Sohn und Tochter sowie weitere Personen stehen in höchster Aufregung dabei. Die Tochter erklärt dem Notarzt, ihre Mutter habe 30 Tabletten genommen, wollte mit dem Auto losfahren und sich umbringen. Sie fleht ihn an, die Mutter mit ins Krankenhaus zu nehmen.
Gegen Einlieferung gewehrt
Der 34-jährige Chirurg, der als Notarzt im Einsatz ist, untersucht die Frau. Blutdruck, Puls und Sauerstoffgehalt im Blut sind normal, es gibt keine Anzeichen einer Vergiftung. Leere Tablettenpackungen deuten auf eher harmlose Medikamente hin. Trotz Alkoholisierung kann die Frau selbst geradeaus laufen, steht später nach einem 20-minütigen Gespräch selbst auf, verabschiedet sich mit Handschlag vom Arzt. Dieser will sie trotzdem sicherheitshalber ins Krankenhaus einweisen. Die Frau wehrt sich vehement dagegen, sagt, sie wolle auf keinen Fall dorthin.
Das ist ein entscheidender Moment für den Arzt: Er kann sich grundsätzlich nicht über den klaren Willen der Frau hinwegsetzen. Und da sie augenscheinlich gesteuerte und überlegte Handlungen zeigt, setzt er diesen Willen voraus. Die Frau ist Alkoholikerin und hat zu diesem Zeitpunkt deutlich über zwei Promille Alkohol im Blut, hält Gutachter Dr. Florian Fischer aus München in der Verhandlung fest, in der sich der Notfallmediziner wegen fahrlässiger Tötung verantworten muss.
Niemand informiert an jenem Abend den Notarzt darüber, dass die Frau wegen Depressionen in Behandlung ist. Richter Beyschlag bringt später zum Ausdruck, dass man seiner Ansicht nach einem Notarzt nicht abverlangen könne, über den akuten Einsatzfall hinaus die Krankengeschichte des Betroffenen zu erforschen.
Der Arzt respektiert den Willen der Frau, lässt sie zurück, beauftragt den 21-jährigen Sohn, sie zu beaufsichtigen und auch im Schlaf nach ihr zu schauen, was der Sohn, der in derselben Wohnung lebt, auch tut. Auch kurz vor 9 Uhr morgens stellt er fest, dass sie schläft und atmet.
Am Vormittag dann die tragische Wendung: Der Notarzt, immer noch im Dienst, wird erneut zu der ihm bekannten Adresse gerufen. Er findet die Frau im Bett liegen – tot. Neben dem Bett eine leere und eine halb leere Flasche eines starken Beruhigungsmittels. Gutachter Fischer stellt fest, dass dies eine tödliche Dosis ist. Die Frau muss diese offenbar nach dem ersten Notarzteinsatz eingenommen haben – die starke und schnelle Wirkung hätte der Notarzt unmöglich übersehen können.
Vermutungen und Gerüchte
Als Sohn und Tochter der Frau als Zeugen vernommen werden, ist dem Gericht klar, dass sie den Tod der Mutter nicht ausblenden und den Ablauf des ersten Notarzteinsatzes nicht objektiv schildern können. Doch die Beschreibungen der Fakten und Abläufe gehen so weit auseinander und sind nach Ansicht der Richter eindeutig von Vermutungen und Gerüchten durchzogen, dass sie nicht zur Klärung der Sachlage dienen können. So spricht die Tochter von keinerlei Alkoholeinwirkung bei der Mutter, der Sohn schildert sie als angetrunken und eine Nachbarin schließlich als volltrunken.
Der zweite hinzugezogene Gutachter, Dr. Ralf Schulte aus Ludwigsburg, der den psychischen Aspekt durchleuchtete, stellt Aufregung, Verwirrung und mangelnde Beobachtungsfähigkeit der Familienmitglieder in ein anderes Licht: „Alle Anwesenden hatten das Gefühl, dass Gefahr im Verzug war, es herrschte eine allgemeine Atmosphäre der Angst.“ Dies müsse man vor dem Hintergrund bewerten, dass die Familie jahrelang an depressives Verhalten und Alkoholexzesse der Patientin gewöhnt gewesen sei.
Kein Psychiater
Aber jeder merkte, dass an diesem Abend etwas anders war, ihre Depressivität gesteigert war. „Der Bestand der erheblichen Eigengefährdung war erfüllt“, drückt es der Gutachter förmlich aus und kommt aufgrund eigener Erfahrungen mit Notarzteinsätzen zu dem Schluss: „Das Verhalten des Notarztes war nicht fachgerecht. Ich hätte darauf bestanden, die Krankenhausbehandlung durchzuziehen.“
Richter Beyschlag und auch Oberstaatsanwältin Brigitte Bauer schließen sich dieser Ansicht nicht an. Der Notarzt sei kein Fachmann für psychiatrische Fragen, er sei in ein kritisches soziales Milieu hineingerissen worden und in eine Situation, der wohl auch ein Familienstreit vorausgegangen sei.
Hier extreme Handlungsverläufe vorherzusagen, könne man ihm fachlich nicht abverlangen. So stellten Richter und Schöffen das Verfahren wegen geringer Schuld des Angeklagten ein und verhängten als Auflage eine Zahlung von 4000 Euro, je zur Hälfte an den Palliativverein und das Bayerische Rote Kreuz.