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@Schwabbelschwarte:
Dein Bericht klingt für mich nach beginnender depressiver Symptomatik, wobei ich natürlich nicht befugt bin, eine Ferndiagnose zu stellen. Such Dir Hilfe beim Hausarzt oder gleich bei einem Psychiater. Grade dieses sinngemäße “Meine Jugend ist vorbei” und “Auf immer und ewig Stroje und sonst nicht” sind für mich da red flags.
Ein Start in der Stroke ist schon Hardcore und wäre nicht optimal aktuell. Solltest Du aber absagen zugunsten einer “leichteren” Stelle, erwähne auf keinen Fall psychische Probleme. Das geht die nix an und könnte Dir schaden. Ist leider so ein trauriges Paradoxon in der Medizin (aber wir Ärzte müssen ja eh nix essen oder trinken, nie aufs Klo und Schlaf wird auch überbewertet - Ironie off).Du solltest Dir natürlich trotzdem Hilfe suchen, nur sollte man das bestimmten Leuten wie potentiellen Chef nicht auf die Nase binden.
Finde ich kommt auch drauf an ob man den Vertrag schon unterschrieben hat. Da muss man zumindest sagen, warum man jetzt absagt. Kann ja sein hat private Gründe oder gesundheitliche oder whatever.
Ja, schade. Mal im Ernst: es gibt einige OÄ hier und dafür wenig bis keinen Austausch darüber, wie es so ist, was die Herausforderungen und deren Umgang damit ist etc.Ich denke es ist der Zeitgeist. Bei den Studis oder auch hier bei den ÄiW ist ebenfalls kein richtiger Austausch, das war vor ein paar Jahren noch anders. Ich würde mich da eher an Networking oder Mentoring-Programme wenden. Ggf. in der Fachgesellschaft, im Kammergebiet o. ä. einen „Tag der OÄ“ gründen …das sind so die Möglichkeiten, die ich so kenne. Daheim hatten die leitenden Ärzt*innen der Infektio so was. Einmal/zweimal im Jahr in der größeren Runde reicht ja. Und mit einzelnen dann auch einfach individuell öfters.
Nefazodon
25.05.2024, 10:52
@Schwabbelschwarte: Ich denke, ich weiß, wie Du dich fühlst. Der Übergang vom Studium ins Arbeitsleben ist immer eine besondere Phase und war zumindest bei mir mit gemischten Gefühlen verbunden. Ich denke das geht vielen so.
Habe ich die einzige Zeit meines Lebens verpasst, um jung zu sein und Freunde zu haben, indem ich meine Unizeit nicht richtig ausgelebt habe? Gibt es in der Neuro an der Uni kein Leben mehr für mich? Kommt nichts mehr für mich?
Dein Bericht klingt für mich nach beginnender depressiver Symptomatik, wobei ich natürlich nicht befugt bin, eine Ferndiagnose zu stellen. Such Dir Hilfe beim Hausarzt oder gleich bei einem Psychiater.
Mit solchen Diagnosen, gerade auch, wenn sie nur auf dem basieren, was jemand hier schreibt, sollte man sehr zurückhaltend sein.
Ich glaube, diese Aussage von Schwabbelschwarte ist völlig "normal" und Ausdruck einer FOMO bzw. einer Sehnsucht nach vergangenem.
Da direkt Depressionen zu vermuten und zum Psychiater zu raten, halte ich für übertrieben!
Ein Start in der Stroke ist schon Hardcore und wäre nicht optimal aktuell.
Auch dazu möchte ich als Neurologe etwas sagen. Ich bin da ambivalent.
Einerseits ist die Stroke Unit sicher ein Arbeitsbereich mit hohem Durchlauf, schwer kranken Patienten und daher hoher Arbeitsbelastung.
Andererseits aber ist es in der Regel ein sehr gut strukturierter Bereich, in dem man als Anfänger unter guter Supervision steht [stehen kann - in guten Kliniken]
Ich kenne es von der Strokeunit so, dass jeden Tag Oberarztvisiten sind. Die Krankheitsbilder sind übersichtlich [Cave: manchmal Übergang zu Intensiv fließend bzw. "Zweckentfremdung" von Strokebetten möglich] und die Pflege hat viel Erfahrung und ist selbstständig.
Also, es kann durchaus Sinn machen, einen Anfänger auf Strokeunit einzuarbeiten. Es kann sein, dass der Plan dahinter steckt, dich gut und strukturiert einzuarbeiten. Es kann natürlich auch sein, dass die Betreuung Schei%%e ist. Aber das wissen wir als Aussenstehende eben nicht.
Pauschal würde ich das jedenfalls nicht als Red Flag sehen.
Hast Du dir die Klinik vor deiner Zusage angesehen? Wie war die Atmosphäre im Bewerbungsgespräch? Hast Du hospitiert? Gibt es einen Weiterbildungs-/Rotationsplan? Wurde dir konkret gesagt, wieviel Forschung erwartet wird?
Was mir aber auffällt: Dass sie sagen, die Weiterbildung zum FA dauert 8 Jahre. In Deutschland dauert sie 5 Jahre. Ich weiß aber nicht, wie die Regelungen in der Schweiz sind. Dennoch: 3 Jahre mehr finde ich schon viel...
Ich verstehe glaube ich gut, wie Du dich fühlst. Wie schon gesagt: es ist immer ein Übergang und daher ein Sprung ins kalte Wasser. Das ist für jeden so. Das Studium ist vorbei und wird nicht wiederkommen. Es bringt nichts dem nachzutrauern. Blick lieber nach vorne. Auch im späteren (Arbeits-)leben kann man noch Vieles erleben und sich eine schöne Zeit machen.
Du hast jetzt erstmal einen Abschluss in der Hand und kannst dir eine passende Stelle, die dir gefällt, suchen.
Welche das ist kann dir hier keiner sagen. Manchmal weiß man es auch selbst nicht immer und muss es einfach ausprobieren. Das schöne ist aber, dass man gerade das auch kann.
Die Stelle an der Uni kann Angst machen, sicher, aber Du wirst deine Gründe gehabt haben dich dort zu bewerben? Sei ehrlich....denkst Du manchmal doch an Karriere, Forschung und Karriere in der Forschung?
Wenn es für dich (solche) Punkte gibt, die für die Uni sprechen, dann probier es doch einfach aus.
Erfahrung auf der Strokeunit schadet nie. Wenn Du dann nach einem Jahr merkst, dass es nichts ist, kannst Du immer noch wechseln.
Jedenfalls solltest Du per se keine Angst vor der Stelle an der Uniklinik haben. Und dein Leben ist ganz sicher auch nicht vorbei!
Es fängt jetzt einfach eine neue Phase an, und was Du spürst ist die Unsicherheit.
Was Du tun solltest:
-Geh nochmal in dich und denke nach. Mach eventuell eine *ehrliche* [=will ich doch irgendwie Karriere? Was reizt mich an der Uni] Pro/Kontra-Liste für beide Jobs. Hat mir immer geholfen sowas Schwarz auf Weiß zu sehen.
-Sprich auch mit deiner Familie und deiner Freundin darüber. Darüber zu reden schafft Klarheit.
-Und dann entscheide in dem Wissen, dass es keine endgültige Entscheidung ist, und Du später auch wechseln kannst.
Nur Mut!
@Nefazodon:
Ich habe keine Diagnose gestellt, was ich auch in meinem Post ausgedrückt habe, dass das ja gar nicht ginge. Es ist mein Recht, zu sagen „klingt wie“. Ich kann über das Wetter auch sagen „ Das sieht nach Regen aus.“ ohne Meteorologin zu sein.
Nefazodon
25.05.2024, 13:33
Natürlich hast Du das Recht zu sagen, dass etwas "klingt wie". Du solltest dir aber schon bewusst machen, gerade als Ärztin, dass auch ein "klingt wie" eine Aussage ist und Auswirkungen hat.
Zum Psychiater/Hausarzt rätst Du dann auch ganz unverblümt....
Ich bin einfach dafür, mit solchen Diagnosen zurückhaltend zu sein. Man kann "normale" Äußerungen, wie sie in einem Forum vielleicht auch mal etwas übertrieben gemacht werden, auch fälschlich pathologisieren.
Das ist alles. Sollte aber auch kein Angriff auf dich sein.
Kackbratze
25.05.2024, 13:48
Ja, schade. Mal im Ernst: es gibt einige OÄ hier und dafür wenig bis keinen Austausch darüber, wie es so ist, was die Herausforderungen und deren Umgang damit ist etc.
Die Herausforderungen sind noch unterschiedlicher als im Assistenzarzt-Bereich, deswegen kann man da keine allgemein gültigen Diskussionen führen.
Als OA steckt man zwischen Baum und Borke, muss seinen Aufgabenbereich strukturieren und kann Personalsachen manchmal weiterhin auf den Chef delegieren.
Die Konfrontationen mit Assistenten sind, zumindest in meinem Bereich, direkt im 1:1-teaching, was ein klassisches Problem in der Chirurgie ist. Welche Problemlöser ich da anwende ist so individuell, das sprengt das Forum und kann aus der Distanz nur missverstanden werden, da nicht alle Facetten der Interaktion im Text erkennbar sind.
@Nefazodon:
Ich empfehle einem zukünftigen Kollegen „unverblümt“ einen Arztbesuch. So what? Es schadet doch nix, drüber zu reden, wenn man sich überlastet fühlt. Schilddrüsenwerte etc. checken lassen, könnte man auch damit verbinden.
@Schwabbelschwarte: Ich empfehle dir ebenfalls, dir professionelle Hilfe zu suchen. Es klingt für mich so, als könnte eine Psychotherapie für dich sinnvoll sein, aber in der aktuellen Situation würde ich auch ein Labor machen lassen (u.a. inkl. Blutbild, Schilddrüse, Vitamin D, Folsäure, Vitamin B12) und mit deinem Hausarzt über eine mögliche antidepressive Pharmakotherapie sprechen. Und so ganz lebenspraktisch interessiert mich, warum du eigentlich weiterhin diese Stelle antreten willst, obwohl du eigentlich schon jetzt weißt, dass du keinen Bock auf Forschung und keinen Bock auf einen stressigen Uniklinik-Job hast. Warum ist das so, wie verstehst du das?
Nachtrag: Außerdem kann man jede Zuagen ja auch zurücknehmen. Und du kannst ja auch einfach nach einem Jahr wechseln. Du bist ja kein Sklave sondern kannst dich jederzeit für einen anderen Arbeitgeber, einen anderen Ort und/oder ein anderes Fach entscheiden. Die Dinge stehen also bei weitem nicht so sehr fest, wie es dir im Moment vorkommt - du hast viele Handlungsoptionen, auch dann, wenn du die Stelle antrittst. Nächstes Thema, da deine Freundin in deinen Schilderungen kaum vorkommt: Wo wohnt die denn? Dort, wo dieses Universitätsspital ist, oder nochmal wo anders? Wie sehen eure Zukunftspläne aus?
Bemerkung am Rande, zur Forendiskussion auf der Meta-Ebene zwischen Nefazodon und Zilia: Ich finde es wirklich irritierend, wie "anders" hier eine psychische Problematik behandelt wird. Wenn jemand nach einem Stockwerk Stiegensteigen eine Pause machen muss, dann jemand anderer schreibt, dass das nach Herzinsuffizienz klingt, und demjenigen empfohlen wird, zum Hausarzt oder zum Internisten zu gehen, würde das doch auch niemand kritisieren. Dass hier eine psychische Problematik mit erheblichem Leidensdruck vorliegt, ist doch bitte offensichtlich. Und das schon seit 2020! Was das jetzt genau ist, kann und darf man aus der Ferne nicht sagen, ist letztlich auch irrelevant, aber zu sagen, dass man sich deswegen professionelle Hilfe suchen sollte ist völlig legitim und völlig in Ordnung, und definitiv nicht "übertrieben". Probleme nicht anzusprechen und nicht zu benennen, das finde ich bedenklich - und schadet letztlich den Betroffenen. Und außerdem ist "depressive Symptomatik" auch keine Diagnose. Das ist ein Syndrom, ein Symptomkomplex, keine Erkrankung.
Relaxometrie
26.05.2024, 13:16
mit deinem Hausarzt über eine mögliche antidepressive Pharmakotherapie sprechen
Ein solches Szenario begegnet mir in der Praxis (Allgemeinmedizin) ja öfter und ich überlege immer, mit welchem Medikament ich starten sollte, um die Zeit, bis der Patient einen Termin beim Psychiater und/ oder zur Psychotherapie hat, bestmöglich zu überbrücken, sprich: bestenfalls schonmal eine Wirkung hervorrufen + Vorarbeit leisten, ohne dass der Psychiater aufgrund meiner Medikamentenwahl die Hände überm Kopf zusammenschlägt.
Wobei letzteres aufgrund individueller Erfahrungen mit dem ein oder anderen Medikament natürlich immer sein kann (zwei Ärzte, drei Meinungen).
"Die Zeit überbrücken" soll nicht heißen, dass es in 100% der Fälle nötig wird, dass ein Psychiater mit ins Boot geholt wird. Wenn ein Patient von den vom Hausarzt verschriebenen Medikamenten + ggfs. Umstellungen im Leben schon ausreichend profitiert, kann das ja schon ausreichen.
Meine Sicht auf dieses Thema:
Venlafaxin hat den Nachteil der Antriebssteigerung und der dadurch möglichen erhöhten Suizidalität, plus erhöhtem Switch-Risiko bei (oft unerkannten) bipolaren Patienten. Außerdem führt es durch die kurze Halbwertszeit überdurchschnittlich oft zu Absetzphänomen.
Duloxetin ist lt. Studien auch sehr gut wirksam - deckt sich nicht ganz mit meiner klinischen Erfahrung. Außerdem auch wieder das gerade erwähnte Problem der Antriebssteigerung und der kurzen Halbwertszeit (oft zwei Einnahmezeitpunkte sinnvoll), würde ich also nicht primär in Erwägung ziehen. (Ist aber sicher oft sinnvoll für Patienten mit ausgeprägten körperlichen Beschwerden, v.a. bei chronischer Schmerzstörung, Fibromyalgie, Somatisierungsstörung, o.ä.)
Bupropion ist für bipolare und/oder ADHS-Patienten toll, aber nicht ganz so gut wirksam.
Paroxetin hat viele Interaktionen, ein schlechtes Verhältnis von Verträglichkeit zu Wirksamkeit, ist deshalb eigentlich irrelevant geworden.
Für Fluoxetin gibts besonders viele Studien, es ist bei Kindern und Jugendlichen besonders gut erprobt, hat eine besonders lange Halbwertszeit mit allen Vor- und Nachteilen, hat ein erhöhtes Interaktionspotenzial, ist weniger wirksam als modernere SSRI/SNRI. Kann man also eigentlich bei den meisten erwachsenen Patienten ignorieren.
Milnacipran ist auch ziemlich gut, aber da fehlt mir leider die Erfahrung. Durch die Einnahme zweimal am Tag ist es weniger bequem zu nutzen.
Das laut vielen Studien wirksamste noch gängige Antidepressivum, Amitriptylin, ist halt leider ein TZA, deshalb deutlich geringere therapeutische Breite, deshalb deutlich riskanter v.a. bei impulsiven/suizidalen Patienten, deshalb für den hausärztlichen Bereich zu ignorieren.
Bleiben also noch Escitalopram, Mirtazapin, Sertralin. Sertralin ist lt. Studien etwas weniger wirksam, dafür für kardial erkrankte Patienten besonders gut geeignet. Mirtazapin ist wirksamer als Escitalopram, aber weniger gut verträglich. Besonders das Thema der Gewichtszunahme schränkt seine Einsetzbarkeit leider ein. Dafür ist es gut wenn Schlafmangel ein Problem ist (wenngleich es gar nicht so selten zu Alpträumen führt).
Ein mögliches, sehr vereinfachtes Schema deshalb, vorausgesetzt, dass der Patient keine MAO-hemmenden Medikamente einnimmt oder in letzter Zeit eingenommen hat:
Wenn kardial vorerkrankt, dann Sertralin.
Wenn kardial nicht vorerkrankt, und bipolar und/oder ADHS, dann Bupropion.
Wenn kardial nicht vorerkrankt, kein Übergewicht, dafür Schlafstörung, dann Mirtazapin.
Ansonsten, Escitalopram (QTc-Kontrolle sinnvoll).
Was sagen die anderen Psych-Kollegen zu diesem Schema?
Relaxometrie
26.05.2024, 13:49
Wow, vielen Dank für die ausführliche Antwort.
Wenn kardial nicht vorerkrankt, kein Übergewicht, dafür Schlafstörung, dann Mirtazapin.
Ansonsten, Escitalopram (QTc-Kontrolle sinnvoll).
Diese beiden Medikamente habe ich bisher bei einigen Patienten neu angesetzt und dabei die gleichen Überlegungen gehabt, wie Du sie hier geschildert hast.
Gerne. Dann hast du ja alles richtig gemacht :-)) Ich war eine Zeit lang in einer psychiatrischen Praxis, hab dort immer wieder Patienten gesehen, die durch die hausärztliche Therapie bereits in (Teil- oder Voll-)Remission waren. Du hast also völlig Recht, dass man dann oft gar keinen Psychiater mehr braucht.
Und die meisten Patienten mit psychischen Problemen werden ja nie einen Psychiater sehen, insofern seid "ihr" bei der Behandlung psychischer Erkrankungen in der Breite sicher viel wichtiger als "wir".
Wichtig ist aus meiner Sicht bei der antidepressiven Therapieeinstellung auch das Erwartungsmanagement. Was kann ein Antidepressivum, was nicht (es wird den Job nicht ändern, es wird die Beziehung nicht ändern, es wird den dauernden Streit mit Vater/Mutter/Tochter/Sohn nicht ändern), wie lange wird es dauern bis die erste Wirkung einsetzt, wie lange wird es dauern, bis die volle Wirkung der aktuellen Dosis spürbar ist. Auch die Tatsache, dass eine Nichtwirkung der aktuell geplanten Zieldosis nicht bedeutet, dass das Medikament nicht wirkt, sondern vielleicht einfach weitere Dosissteigerungen nötig sind. Ich erkläre meinen Patienten bei Sertralin z.B. immer, dass ich ihnen empfehle, drei Tage lang 25mg einzunehmen, dann auf 50mg zu steigern, dass der antidepressiv wirksame Bereich in der Regel 50-200mg beträgt, dass 50mg also bei vielen Patienten schon wirken, aber dass eine Nichtwirkung von 50mg noch lange nicht heißt, dass Sertralin bei ihnen nicht wirkt. So kann man dann etlichen sprunghaften Umstellungen vorbeugen - am Ende hat der Patient vier Antidepressiva gehabt, aber kein einziges in der Tageshöchstdosis. Das ist dann doof, weil der Patient natürlich total auf die "Nichtwirkung" dieser vier Wirkstoffe geprimed ist. Und natürlich auch die anderen Aspekte, insbesondere regelmäßige Bewegung (selbst wenn es nur 15min schnelles Gehen am Tag sind), Schlafhygiene (ganz wichtig!), Ernährung, soziale Kontakte, Hobbies, usw.
Aber selbst bei Patienten, wo die Probleme sehr eindeutig reaktiv sind, d.h. aus einer Kombination von psychosozialen Faktoren und Persönlichkeit resultieren, oder einfach vorübergehend aufgrund eines schwerwiegenden Lebensereignisses präsent sind, können Antidepressiva oft zu einer deutlichen Symptomlinderung führen.
Wichtig ist dann halt auch, dass man nach Abklingen der Symptomatik bei gutem Wind auch wieder eine Reduktion bzw. das Absetzen initiiert. Aber das ist dann schon wieder ein eigenes Thema.
HalloPeter
26.05.2024, 15:46
Lerne gerade für meine FA-Prüfung Innere Mitte Juni. Verdammt, es ist unnormal viel Stoff & ich frage mich echt, wie ich die letzten Jahre als AA wirklich ganz gut überlebt habe mit - gefühlt - so eklatanten Wissenslücken :-nix
Vaskulitiden etc., zig Mal angeschaut, es will mir nicht in den Schädel. Andererseits, vor der Notarztprüfung ging's mir auch so & am Ende war die Prüfung wirklich ganz gut..
Irgendwelche Psychopharmaka für Hausärzte zu empfehlen, halte ich nicht für sinnvoll. Das meiste, was ich in der Richtung sehe, ist leider völlig insuffizient, oft gefährlich. Und das aus einem einfachen Grund: Es fehlt das Wissen und die Erfahrung der Diagnostik. Da werden Antidepressiv noch und noch reingehauen bei jemandem mit starken Stimmungsschwankungen (weshalb auch immer), was stets kontraproduktiv wirkt. Da werden diskrete psychotische Symptome übersehen, die durch AD verstärkt werden. Da werden dementiere Entwicklungen nicht beachtet und schon gar nicht die Psychodynamik eines Patienten. Gerade bei jungen Menschen, die nicht endogen erkrankt sind, ist es in sehr vielen Fällen möglich, ohne Psychopharmaka zurecht zu kommen, anstatt Pharmafeuerwehr zu spielen und den Pat. ein einseitiges Bild ihrer Störung zu vermitteln. Psychopahologie ist eine Kunst, die nicht unterschätzt werden sollte; bevor therapiert wird, sollte klar sein, wie genau sich das Problem darstellt, Jemanden, der Orientierungsschwierigkeiten im Leben hat, würde ich in der Primärversorgung auf gar keinen Fall Psychopharmaka verordnen - es sei denn, es gibt psychotische Anzeichen oder es ist Gefahr im Verzug.
Das sehe ich anders. Aus vielerlei Gründen. Zum Teil einfach deshalb, weil es unrealistisch ist, all diese Leute zum Psychiater oder zum Psychotherapeuten zu schicken. Und auch, weil ich nicht glaube, dass die Mehrheit der Patienten so schwer zu diagnostizieren ist.
Man muss die Psychiatrie nicht mystifizieren, nicht zu etwas komplizierterem machen als sie tatsächlich ist.
Hausärzte stellen Hypertoniker ein, stellen Diabetiker ein, also sollen sie natürlich auch Depressive einstellen.
Züschata
26.05.2024, 16:28
Ich respektiere beide Seiten und bin mir über die Begrenztheit der Ressourcen bewusst, möchte aber auf verschiedene Aspekte aus Sicht eines Psychiaters hinweisen:
- ich habe Zweifel an der korrekten Einstufung der Diagnose und des Schweregrads
- dadurch ergeben sich verschiedene Implikationen und hängt die Wirksamkeit der etwaigen Medikation davon ab
- wird von der Mehrheit, und davon bin ich felsenfest überzeugt, nicht ausreichend bzw. überhaupt nicht über wichtige, häufig unbekannte Nebenwirkungen von SSRI, insbesondere die Absetzsyndrome, Post-SSRI sexuellen Funktionsstörungen und Störungen der Emotionalität aufgeklärt
- ohne psychotherapeutisches Modell stochert man eigentlich im Dunklen
- gibt es meistens keine Exitstrategie und kein Wissen über das Ausdosieren der Antidepressiva, was wiederum zu Problemen führt
Dies gebe ich nur zu bedenken. Ich bin dennoch der Ansicht, dass ein Teil der Patienten rein aus Gründen der geringen Symptomlast und der Ressourcen hausärztlich verbleiben kann. Ich (und auch die Leitlinie mindestens hinsichtlich leichter depressiver Episoden) finde vor allem das Vermitteln von Verhaltensstrategien vor Verordnung eines Medikaments für indiziert.
Alle genannten Punkte sind sicherlich wichtig. Aber man sollte nicht vergessen, dass die Interrater-Reliabilität von Diagnose und Schweregrad auch bei Psychiatern nicht wahnsinnig toll wäre. Und man sollte auch nicht vergessen, dass nach der ICD-Logik die große Mehrheit all jener Patienten, die man umgangssprachlich als depressiv bezeichnen würde, zumindest die Kriterien einer mittelgradigen Episode erfüllt, sodass die Leitlinienempfehlungen zur leichten depressiven Episode zwar ganz nett sind, aber praktisch gesehen nicht wahnsinnig relevant sind.
Und wir sprechen bei depressiven Episoden von einer 12-Monats-Prävalenz von mehr als fünf Millionen Betroffenen in Deutschland. Das heißt schon rein versorgungspraktisch gesehen, ganz abseits aller diagnostischen, psychodynamischen und sonstigen Feinheiten, KANN man diese Menschen nur behandeln, wenn der hausärztliche Bereich hier die Hauptrolle spielt.
Ich bin auch fest davon überzeugt, dass der hausärztliche Bereich aufgrund des immer größeren Ärztemangels in Zukunft eine noch viel größere Rolle spielen wird müssen - nicht nur bei psychischen Erkrankungen, sondern auch bei allen anderen Erkrankungen. Deshalb ist es mein persönliches Ziel, auch im Umgang mit Hausärzten im Bekanntenkreis, mit Medizinstudenten, usw., ihnen ein paar Grundlagen mitzugeben, als ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass Psychiatrie so kompliziert ist, dass man besser gar nichts tut. Denn auch wer eher kein Medikament verordnet, schadet vielen Patienten - weshalb mich diese Thematik ein wenig an das Trolley-Problem erinnert.
Aber natürlich behandeln unterschiedliche Ärzte unterschiedlich, manche greifen schneller zur Medikation als andere, usw., und das ist ja auch völlig legitim so. Jeder muss ja das, was er tut, mit seiner persönlichen Philosophie, seinem eigenen Wissensstand, usw. vereinbaren können. Also ist natürlich klar, dass es auch viele andere Wege gibt, einen Patienten zu behandeln, und dass viele dieser anderen Wege auch völlig OK sind.
Nefazodon
26.05.2024, 16:56
Bemerkung am Rande, zur Forendiskussion auf der Meta-Ebene zwischen Nefazodon und Zilia: Ich finde es wirklich irritierend, wie "anders" hier eine psychische Problematik behandelt wird. Wenn jemand nach einem Stockwerk Stiegensteigen eine Pause machen muss, dann jemand anderer schreibt, dass das nach Herzinsuffizienz klingt, und demjenigen empfohlen wird, zum Hausarzt oder zum Internisten zu gehen, würde das doch auch niemand kritisieren. Dass hier eine psychische Problematik mit erheblichem Leidensdruck vorliegt, ist doch bitte offensichtlich. Und das schon seit 2020! Was das jetzt genau ist, kann und darf man aus der Ferne nicht sagen, ist letztlich auch irrelevant, aber zu sagen, dass man sich deswegen professionelle Hilfe suchen sollte ist völlig legitim und völlig in Ordnung, und definitiv nicht "übertrieben". Probleme nicht anzusprechen und nicht zu benennen, das finde ich bedenklich - und schadet letztlich den Betroffenen. Und außerdem ist "depressive Symptomatik" auch keine Diagnose. Das ist ein Syndrom, ein Symptomkomplex, keine Erkrankung.
Sorry, aber dem kann ich nicht zustimmen. Der Vergleich den Du anbringst, hinkt gewaltig. Aber um in diesem Vergleich zu bleiben: Du würdest doch auch niemandem zu Herzinsuffizienz-Diagnostik und Therapie raten nur weil er *einmal* nach dem Treppensteigen außer Atem ist und ohne dass Du die Vorgeschichte kennst?
Vor allem würde man als erstes zu einer hausärztlichen Basisdiagnostik raten und nicht gleich einen Kardiologen empfehlen....
Ad 2: Auch die Diagnose eines Syndroms ist eine Diagnose. Etwas anderes zu behaupten ist Unsinn.
Ad 3: Nicht jede psychische Belastung und Problematik ist direkt behandlungsbedürftig. Es ist vollkommen normal im Leben mal zu hadern und zu zweifeln, auch mal unzufrieden oder gar unglücklich zu sein.
Ich denke aber, bei den meisten ist das nur eine Phase, die selbstlimitierend ist, ohne Behandlungsbedarf.
Aussagen die im Forum getätigt werden, sollten in dieser Hinsicht auch nicht überinterpretiert werden. Ich würde behaupten, viele Nutzen das Forum auch als eine Art Psychohygiene um sich Sachen von der Seele zu schreiben, ggf. natürlich auch um Ratschläge und Hilfe zu bekommen. Aus dieser Sicht formulieren aber einige auch schonmal drastischer als sie es im echten Leben tun würden, würde ich meinen.
Ad 4: psychische Problematik mit Leidensdruck seit 2020: Wir hatten die Coronapandemie. Zu dieser Zeit wird es mehreren so gegangen sein, wie dem OP. Damit möchte ich die Problematik nicht kleinreden, jedoch handelt es sich nach meiner Einschätzung um eine "Krise", die viele so erlebt haben dürften, und die damit eine "normale" Reaktion darstellt.
Es ist aus meiner Sicht einfach NICHT sinnvoll eine "normale" Phase der Unsicherheit und des erhöhten Drucks in Zeiten eines biographischen Umbruchs zu pathologisieren.
Auch die Empfehlung, einen Psychiater aufzusuchen ist nicht sinnvoll.
Es gibt viel zu wenig niedergelassene Psychiater für viel zu viele ernsthaft psychisch Kranke. Wirklich Kranke bekommen keine Termine, weil Menschen mit "normalen" Lebensschwierigkeiten, die NICHT krank sind, an einen Fachmann/Fachfrau für psychische Erkrankungen verwiesen werden.
Im besten Fall sagt ein guter Psychiater diesem Menschen überspitzt: "Was wollen Sie hier? Sie sind nicht krank"
Im schlechtesten Fall gerät der OP aufgrund solch eines Rates an eine "Pill Mill" und bekommt ohne Indikation Psychopharmaka verschrieben, weil ein völlig überlasteter Arzt keine Zeit hat, ihn sich richtig anzusehen....
Versteht mich alle bitte nicht falsch. Ich erlebe selbst in meinem Sprechstundenalltag, dass psychiatrische Erkrankungen, insbesondere Depressionen, massiv unterdiagnostiziert und untertherapiert sind. Das würde ich nie bestreiten. Und diesen Patienten empfehle ich, nachdem ich sie untersucht habe, oft auch Psychopharmaka.
Aber es ist doch bitte übertrieben, jemandem dazu zu raten, sich psychiatrisch vorzustellen, nur weil er im Forum einen Post absetzt, in dem er über eine nachvollziehbare Belastung in seinem Leben berichtet.
Deinen Post zu Psychopharmaka finde ich übrigens interessant und hilfreich davo. Danke dafür.
Ich möchte aus meiner Erfahrung ergänzen, dass ich leider oft erlebe, dass die Patienten nur sehr niedrige Dosen bekommen.
Andererseits werden aber empfohlene Labor- und EKG-Kontrollen oft nicht umgesetzt. Von Spiegelkontrollen bei fehlender Wirkung unter adäquater Dosierung ganz zu schweigen.
Außerdem möchte ich auf die Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression verweisen.
Noch @züsch: Ich bin Kackis Meinung. Auch unser Kammerweites Treffen ist fachintern (und hat auch gar nichts mit der Kammer zu tun). Du bist schnell OA geworden, so lang bist du doch noch gar nicht FA? Ich find ja bei uns ist OÄ das schlimmste, was es gibt. Man bekommt es von oben und von unten ab, macht ganz normales Alltagsgeschäft (analog zum Station putzen in den großen klinischen Fächern) und muss noch die ÄiWs supervidieren, großziehen und den leitenden Ärzt*innen den Rücken freihalten. Absoluter Albtraum. Darum hab ich auch immer Angst, dass die OÄ kündigen. Wir sind so am Arsch dann, so nen Scheiß tut sich doch niemand anderes an. Manchmal koch ich deswegen Kaffee und bring Kekse mit.
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